/

 

Steffen Osvath über seine Arbeiten


Fotodelere - Achtlos weggeworfene Fotografien


Archäologen erfinden aus Spuren aufs Neue ein Leben.

Daher sehe mich nicht als Fotograf - eher als Fotoarchäologe oder Fotogeologe.

 Die Privatfotografien, die aus ihrem Zusammenhang gerissen völlig wahllos in Kisten bei mir landen, waren nie der Öffentlichkeit zugedacht. Es sind fremde Personen mit unbekannten Geschichten, die in einem Archiv, das derzeit 20.000 Diafotografien umfasst, in ihrer Gesamtheit einen Einblick in die europäische Privatkultur des gesamten 20. Jahrhunderts geben.

Zwei Dinge verbindet sie: Vergänglichkeit und Unwichtigkeit des Einzelnen.

Ob es sich um Fotografien von stolzen Familienoberhäuptern zu Beginn des letzten Jahrhunderts handelt, um Bilder von Feiern bei Wirtschaftswunderfamilien oder posierenden Paaren der 1990er – alle Fotos vermitteln Distanz und dennoch Vertrautheit.

 Die Fotografien sind depersonalisiert: Die uns unbekannten Figuren auf ihnen sind Eingeschwärzt, heruasgeschabt, übermalt oder völlig ausradiert (daher auch der Name Fotodelere = lat. tilgen mindern). So sehen wir identitätslose Personen, deren Position auf jedermann übertragbar ist

Wir sehen die Vergänglichkeit des Seins. Der Eindruck eines allgemeinen Verfalls wird verstärkt, wenn man sich vor Augen hält, welchen Weg all diese Fotografien genommen haben:

Sorgfältig gehütet als persönlicher Schatz, aufbewahrt als visuelles Familien-Gedächtnis, weggeworfen, verkauft oder vergessen als Gegenstand verschiedener Erinnerungsentrümpelungen, die die nächsten Angehörigen teilweise schon kurz nach dem Versterben der Person durchgeführt haben.

Die Fotodelere transportiert die Vergänglichkeit, den Umgang mit diesen Privatkonvoluten und das Vergehen des Trägermaterials ansich direkt in die Bilder.

Die Fotografien werden zunächst digitalisiert, danach archiviert, danach bearbeitet, so dass immer wieder neue Interpretationen möglich sind. Die Bilderrahmen, Diaprojektoren oder Glasscheiben, in denen die Fotografien präsentiert werden, sind ebenso Gebrauchsgegenstände ihrer Zeit.

In Ausstellungen drängen sich viele Bilder dicht aneinander, wodurch sich jeder Betrachter eine Geschichte individuell in seinem Kopf konstruiert. Eine Wandergruppe verwandelt sich neben dem Soldaten zur Flüchtlingstruppe, neben der blinden Frau werden die Wanderer zu Lemmingen, die ins Nirgendwo marschieren.


Die Zeitkomponente löst sich auf und ist zugleich Rückblick, Ansicht wie auch Aussicht.

Aus einer Rezension zu Osvaths Ausstellung "Wohnhaus grimmer Schmertzen" im Tresor, Stuttgart

"Beklemmend" ist vielleicht die adäquateste Bezeichnung für die Wirkung, die Steffen Osvaths Fotografien und Projektionen auf Erstbetrachter haben. Statt Familienidyllen erblickt der Betrachter auf den Schwarz-Weiß-Fotos weggekratzte Köpfe, fratzenhaft verzerrte Mienen, mit schwarzen Balken anonymisierte Gesichter und sich auflösende Körper. Ein Großteil der als Ausgangspunkt dienenden Fotos hat Steffen Osvath auf dem Recyclinghof vor dem Flammentod gerettet. Es sind anonyme Aufnahmen, inszenierte Gruppenportraits von Unbekannten, deren Lebensgeschichte anhand der Fotofragmente nicht mehr rekonstruiert werden kann. Durch seine analogen und vor allem digitalen Bearbeitungen der Fotos führt Osvath die Entfremdung zwischen Fotografiertem und Betrachter fort, sorgt andererseits aber für eine emotionale und symbolhafte Aufladung der Motive. Osvath legt in der Fotografie unterschwellig schlummernde Energien frei, mischt sich ein, hinterlässt buchstäblich Spuren und konstatiert demzufolge zurecht: "Ich sehe mich nicht als Fotograf, eher als Fotoarchäologe oder Fotogeologe."

Speziell für den "Tresor - Raum für flüchtige Kunst" kreiert Steffen Osvath zwei raumfüllende Environments, die zwischen Horror-Kabinett, Foto-Ausstellung und Licht-Installation changieren und so eine mögliche Aura der fensterlosen, mit Betonwänden ausstaffierten Tresor-Räume aufnehmen. Die Fotos und Dias leuchten wie flüchtige Gedankenblitze kurzfristig aus dem Dunkel des Vergessens auf, um kurz darauf wieder darin zu versinken. Durch die chronologische Anordnung erzählen die Bilder eine Geschichte, allerdings konstruiert jeder Ausstellungsbesucher diese Geschichte individuell in seinem Kopf. Eine Wandergruppe verwandelt sich neben dem Soldaten zur Flüchtlingstruppe, neben der blinden Frau werden sie zu Lemmingen, die ins Nirgendwo marschieren.

Der Ausstellungstitel "Wohnhaus grimmer Schmertzen" ist dem Gedicht "Menschliches Elende" von Andreas Gryphius entnommen, in dem es heißt: "Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmertzen? Ein Baal des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit. Ein Schauplatz aller Angst und Widerwertigkeit". Osvath entlarvt mit seinen Fotobearbeitungen dieses "falsche Glück", dieses "Irrlicht" der Dauerhaftigkeit. Das Gedicht endet mit der Zeile "So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden". Diese Flüchtigkeit der menschlichen Existenz ist im "Tresor" sicht- und spürbar. Die Installation gemahnt an die Vergänglichkeit und die Unwichtigkeit des Einzelnen. Sie macht einem Angst, härtet aber auch ab und verströmt trotz allem eine fast romantische Poesie, der sich niemand erwehren kann.

 

Kontakt:

Steffen Osvath
Vogelsangstr. 155
70197 Stuttgart
super_umsch@gmx.de
www.ossidee.de